05.08.18 Brief (3 Blätter) ohne Umschlag

Montag d. 5. August 1918

Liebste Martha!

Ich will heute in längeren Ausführungen zu Deinem Schreiben vom 30. Juli Stellung nehmen, auf Deinen Wunsch auch meine Gedanken über die Weltkriegslage äußern. Zunächst die rein militärische Lage der beiden Mächtegruppen. Im Verlauf des Weltkrieges war die Übermacht der feindlichen Kräfte nie größer, wie im Herbst 1916. Zu der Zeit hatten die Somne -Kämpfe unsrer Westfront verheerende Wunden geschlagen. Der erfolgte Einbruch der Brussilow-Offensive hatte allein den Österreichern Hunderttausende an Verlusten gebracht. Die Verlängerung der Verteidigungsfront war durch Rumäniens Kriegserklärung um mehrere Hundert Kilometer vergrößert. Für die Mittelmächte war die Lage also äußerste kritisch. Das umgekehrte Verhältnis bestand zur Zeit der Frühjahrsoffensive 1918 unsererseits. Selbst zu dieser Zeit ist die Überlegenheit an Mannschaftszahl und Material immer auf Seiten des Feindes gewesen, wenn auch zu der Zeit die feindlichen Blätter das Gegenteil behaupteten. Unsere großen Erfolge waren zurückzuführen auf die unsererseits angewandte Taktik des überraschenden Angriffs. Diese Taktik hat nun auch der Feind sich angeeignet. Damit ändert sich mit einem Schlage das militärische Bild zu unseren Ungunsten aufgrund der Überlegenheit unseres Gegenübers an Soldaten, sowie an Material. Zudem kommen noch andere Argumente, die in Zukunft unsere militärische Kraft immer mehr herabmindern. Zunächst ist es der Rohstoffmangel, dann Futtermangel und 3. die Nahrungsmittelnot. Mit all diesen Gegnern hat der Feind nie zu kämpfen gehabt und bleibt ihm auch nach menschlicher Voraussicht für die Zukunft aller Nachschub gesichert trotz der U-Boot Gefahr. Ich will kurz einmal wiederholen die militärischen Ereignisse dieses Sommers. Zunächst unser Einbruch zwischen Soisson und südlich Arras. Die Wahl dieser Einbruchstelle war sehr richtig gewählt, bedrohte doch ein zweiter Einbruch in gleicher Tiefe an dieser Stelle den Zusammenhang der französisch-englischen Front aufs Empfindlichste. Dieser zweite Angriff auf dieser Stelle ist meiner Ansicht nach auch beabsichtigt gewesen, mußten aber vorerst aufgegeben werden, da sämtliche feindliche Reserven dort zusammengezogen wurden. Um sie wieder von dort fortzulocken, griff man dann auf andren Stellen an. Zunächst zwischen Soisson und Reims. Da vom Feinde unbemerkt, war der Erfolg entsprechend. Dann der Angriff bei Montdidier von der Aisne bis .... Hulier. Diese Offensive ist verraten worden, Erfolg blieb deshalb aus. Alle diese Offensiven sind meiner Ansicht nach nur Vorbereitungen gewesen für die großen, durchschlagenden Erfolge, die uns die Angriffe gegenüber der italienischen Front und dann in der Champagne vom Argonnerwald bis zum Chateaux Thierry an der Marne bringen mußten. Diese Angriffe waren wiederum auf einer für den Feind sehr empfindlichen Stelle der Front angesetzt. Der Angriff in Italien mußte bis zur Rückverlegung der italienischen Front bis hinter die Etsch führen. Die kürzeste Verteidigungsfront war dann erreicht. Der bisher größte Angriff in der Champagne woran auch wir teilnahmen, also eine große Menge von Batterien aus Rußland herangezogen wurden, sollte gewiß zum Ziel haben, Reims, Chalons und Verdun zur Aufgabe zu zwingen, wie sie einzuschließen. Unsere Front ginge dann von St. Mihiel an der Maas in gerader Linie an einem Teil der Marne entlang und weiterhin, wenn dann auch der letzte Stoß bei Amiens vollen Erfolg gebracht hätte, bis zur Mündung der Somne. Die kürzeste Verteidigungslinie wäre somit auch im Westen erreicht worden. Das Erreichen dieses Zieles muß m. A. nach immer Hauptaufgabe unserer Führung bleiben im Hinblick auf die immer größer werdende Übermacht der Feinde. Die somit geteilte nördlich feindliche Front hätte dann dann im Laufe der Zeit ans Meer drücken können und wäre wiederum die Front um etwa ein viertel der ganzen Länge verkürzt. Das Ergebnis ist nun folgendes: 1. Der Teilangriff bei Montdidier ist durch Verrat mißglückt, 2. Die Vorbereitungen an der italienischen Front sind verraten worden, 3. Die Vorbereitungen in der Champagne und südwestlich Reims usw. sind verraten worden. Die Erfolge mußten demnach ausbleiben. Ferner sind in allerletzter Zeit unsere Vorbereitungen bei Lille, also nördlich von uns, plötzlich abgebrochen worden. Höchstwahrscheinlich liegt wieder Verrat vor. Einen Angriff unternehmen, wenn die Vorbereitungen dem Gegner bekannt, führt erstens zum völligen Mißerfolg und zweitens zu schweren blutigen Verlusten. Dies hat der Angriff und die weiteren Kämpfe bei Montdidiers bewiesen. Aus diesem Grunde hat man schon am zweiten Angriffstage in der Champagne, nachdem durch Aussage der ersten Gefangenen wir darüber benachrichtigt wurden, daß dem Feinde unsere Angriffsabsichten schon seit neun Tagen bekannt den Befehl gegeben sofort weitere Angriffe einzustellen. Das war die beste Lösung. Ob nun in der Zwischenzeit noch weitere Angriffsabsichten unsererseits bestanden haben und auch Vorbereitungen getroffen wurden, die nach Bekanntwerden des Verrats wieder zurückgenommen wurden, ist mir nicht bekannt. In der Aufeinanderfolge sind nun vier großzügig angelegte Offensiven durch Verrat unserer eigenen Leute gescheitert. Mithin hat es keinen Zweck mehr Offensivabsichten zu hegen, da sich unter der Masse der Soldaten immer einige Lumpen befinden, die zum Feinde herüberlaufen und diesem alles darüber wissenswerte mitteilen oder wenn bei gewaltsamen Erkundungsunternehmungen einige Soldaten zu Gefangenen gemacht werden, so werden sie beim Verhör gewiß mit allen Mitteln dazu gebracht, zweckdienliche Aussagen zu machen. Wie ich schon immer sagte, besitzt der deutsche Soldat im Verhältnis zum feindlichen Kämpfer nicht das unbedingt notwendige Vaterlandsgefühl um unter allen Umständen alles zu vermeiden, was dem eigenen Vaterland Schaden bringen kann. Hinzu kommt die Interessenlosigkeit und die schlechte Aussicht auf baldiges Kriegsende. Die stärkeren Nerven sind außerdem auch bei den Franzosen und Engländern vor allem zu suchen. Unabhängige Sozialdemokraten gibt es in unserem Heere in Massen, nicht aber bei den Feinden. Das ist die große Gefahr für uns. Die Fehlschläge der letzten Offensiven werden zur Folge haben, daß wir das eroberte Gelände mit der Zeit wieder aufgeben müssen, da es in jetziger Form die Front wesentlich verlängert. Verhalten wir uns also defensiv, besetzen dauernd auch die zweiten Stellungen, so wird es auch dem an Zahl weit überlegenen Gegner niemals möglich sein, unsere Front zu durchbrechen. Zusammenfassend darf man also behaupten, daß es dem Gegner niemals gelingen wird, unsere Front wesentlich einzudrücken oder zu durchbrechen, wenn wir nicht freiwillig aus taktischen Gründen eine Rückverlegung der Front für notwendig halten und zur Durchführung bringen. Zur Zeit verwendet nun der Gegner eine große Menge kleiner Tanks, mit deren Hilfe es ihm zwar bei den letzten Kampfhandlungen gelungen ist, ohne Artillerievorbereitung an mehreren Stellen unsre Linien zu durchbrechen. Hoffentlich wird man bald unsererseits auch dieser Gefahr durch geeignete Gegenmaßregel begegnen. So also die militärische Lage. Jetzt und aller Voraussicht nach in der Zukunft. - Was den kommenden Frieden anbetrifft, so muß ich leider zu der Ansicht neigen, daß derselbe für die Mittelmächte schmachvoll ausfallen wird. England und Amerika werden nicht eher ruhen, bis Deutschland als Militärmacht vollkommen zurückgedrängt ist, durch absichtliche Verlängerung des Krieges um Jahre, wird ihnen das gelingen, da nach meiner Schätzung die Mittelmächte im günstigsten Fall nur noch zwei Jahre aushalten können. Nicht militärische Operationen bringen den Frieden, auch nicht Friedensangebote unsererseits. Auf Seiten der Gegner wird man absichtlich jeglichen Friedensgedanken zurückdrängen, bis die Mittelmächte wirtschaftlch zusammenbrechen. Wann dieser Zeitpunkt herankommen wird, kann man noch nicht voraussagen. Ich glaube, daß wir es also noch zwei Jahre aushalten werden. Über Japans Absichten habe ich noch nichts gelesen, da wir keine Post erhalten haben in letzter Zeit. Ich schätze, die Absichten Japans gehen dahin, kurz vor Kriegsende wirksam gegen uns aufzutreten, um erstens für die Zukunft es nicht mit den Engländern und Amerikanern zu verderben, zweitens um möglichst wenig Unkosten durch kriegerische Teilnahme zu haben.

Wann also der Frieden kommt, läßt sich nicht sagen. Länger wie zwei Jahre wird der Krieg nicht mehr dauern. Wenn wir jetzt unter allen Umständen zum Frieden kommen wollten, so müßten wir den Franzosen das gesamte linke Rheinufer, den Engländern unsere Kolonien anbieten und alle eroberten Gebiete im Osten wieder herausgeben, vielleicht auf Verlangen Wilsons Posen und Westpreußen an Polen abtreten. Vorerst wird man sich auf unsrer Seite gegen jegliche Gebietsabtretung erklären und geht deshalb der Krieg weiter. Ein sehr großer Unterschied wird es zwar nicht sein, ob man als Sieger oder Besiegter aus diesem Kriege hervorgeht. Kaputt sind alle Mächte, die seit Beginn daran teilgenommen haben. Dies meine Gedanken über Friedensmöglichkeiten.

Glückverheißend sind sie nicht. - Da ich noch heute nachmittag nach Douai fahren möchte, so muß ich schließen, weil ich mich noch 1 ½ Stunde auf‘s Ohr legen möchte.

Herzliche Grüße

Dein Fritz

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Version 1.0 Gerhard - Hermann Kuhlmann, November 2005